Blogeintrag #3: «Purpose Stresstest» mit einer System- und Strukturaufstellung (SyA) – eine Fallbeschreibung

Im #3_Blogbeitrag schildere ich aus der Praxis wie eine Unternehmenseinheit ihren Purpose entwickelte und ihn in einer System- und Strukturaufstellung (SyA) einem «Stresstest» unterzog. Im #1Blogbeitrag ging es bereits um Purpose.

Vorbemerkungen

System- und Strukturaufstellungen[1], im folgenden SyA genannt, werden seit anfangs der 1990 Jahre in Organisationen eingesetzt. Es gibt inzwischen dazu einige Puplikationen, eine kleine Auswahl finden Sie am Schluss dieses Beitrag unter Weiterlesen[2].  Die hier in diesem Praxisfall dargestellte Anwendung von SyA habe ich im Verlauf der Jahre entwickelt und immer weiter verfeinert. SyA ist eine sehr effizienteste Methode, wenn es darum geht, in kurzer Zeit, konkret und in einem grösseren Kontext zu erfassen, um was es geht, sowie klare Hinweise zu bekommen, in welche Richtung was zu tun ist.

Damit eine SyA im Unternehmen erfolgreich ist sind drei Voraussetzungen nötig:

  • Vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zwischen Auftraggeber:in und Faciltator[3]

    Bevor ich in einem Unternehmen mit System- und Strukturaufstellungen arbeite, lernen Auftraggeber:in und ich uns kennen, in dem wir miteinander zu zweit arbeiten. So wird für beide Seiten deutlich, ob eine weitere Zusammenarbeit möglich ist oder eher nicht. Im dargestellten Fall haben die Auftraggeber:in und ich uns im Rahmen von zwei online Coaching Sitzungen kennengelernt; sie hat aus ihrem beruflichen Kontext eine konkrete, für sie relevante Fragestellung mit Hilfe des online Systembrettes bearbeitet.

  • Sorgfältige Vor- und Nachbereitung

    Zwischen der Kennenlern-Phase und einem konkreten Auftrag vergehen manchmal nur wenige Tage, manchmal mehrer Monate. Im dargestellten Fall lagen ca. 12 Monate zwischen dem Erstkontakt und der Anfrage für eine System- und Strukturaufstellung in ihrem Unternehmen für ihren Bereich.
    Zur Vorbereitung gehört die Klärung der Fragestellung. Was soll mit der System- und Strukturaufstellung erreicht, verbessert, erkundet werden? Im dargestellten Fall war der Auftrag anfangs noch vage. Die Auftraggeber:in hat zum Zeitpunkt der Kontaktnahme anfangs Jahr mit einer kleinen Arbeitsgruppe gestartet, mit dem Auftrag, für ihren Bereich - abgestimmt auf die Gesamtorganisation - den Purpose zu formulieren (=deklarierter Purpose). Dieser Prozess wurde bewusst top-down gestartet. Für die SyA wurde lediglich ein provisorischer Termin im April vereinbart.

    Nach der SyA findet zeitnah, innerhalb von maximal einer Woche eine Nachbesprechung mit der Auftraggeber:in statt.

  • Technische Voraussetzung

    In SyA in Unternehmen arbeite ich oft mit dem online Systembrett und mit Zoom. So kann die Auftraggeber:in und Personen ihrer Wahl die Dynamik zur gesetzten Fragestellung von aussen beobachten und weitere Fragen während der SyA stellen. Dazu müssen die technischen Möglichkeiten vor Ort gegeben sein, sowie die nötigen Kenntnisse und Erfahrungen der Repräsentanten, die in der Aufstellung online mitwirken.

Set und Setting

Im dargestellten Fall wurde in einer ersten Phase (Januar bis März) mit einer kleinen Arbeitsgruppe, extern moderiert gearbeitet. Da war ich nicht dabei. Dieser kreative Prozess beinhaltete verschieden Schritte und Zugänge mit dem Ziel den Purpose für den Bereich zu formulieren. Diese und alle daraus resultierende Ergebnisse wurden online auf Mural dokumentiert. So wurde im Januar lediglich der Termin für die SyA im April mit einer groben Fragestellung festgelegt, plus wer aus dem Team als Beobachter dabei sein könnte. Dazwischen haben Auftraggeberin und ich drei online Termine à 60 Min. vereinbart, damit

a) die Prozessschritte transparent waren und für mich gut nachvollziehbar,

b) allmählich die Fragestellung für die Aufstellung sich klärte,

d) ich Vorschläge für das Aufstellungsformat machen konnte,

e) die Auftraggeber:in zusammen mit mir das Ausgangsbild erstellen konnte

Wie es Zeit wurde, die Fragestellung für die SyA zu finalisieren, äussert sich die Auftraggeber:in so, dass sie für den eben neu entstandenen deklarierten Purpose gerne einen «Stresstext» machen würde. Parallel wurde im Unternehmen in einem Sounding-Board bereits erste Rückmeldungen eingeholt. Als Format entschieden wir uns für eine online Jury Aufstellung mit externen Repräsentanten. In einer Jury Aufstellung «bewerten» ausgewählte Elemente ein oder mehrere Varianten. Hier, im dargestellten Fall, ging es darum zu prüfen, wie unterschiedliche Elemente auf den «frischgebackenen» deklarierten Purpose reagierten und umgekehrt. Zu diesem Zeitpunkt war ebenfalls wichtig, die Definition und unterschiedlichen Facetten von Purpose mit der Auftraggeberin zu klären und abzustimmen. Sieh dazu aus mein Blog Beitrag #1. Die SyA wurde in einem hybriden Format geplant, d.h. 9 Personen, die als Repräsentanten wirkten, wurden am Tag der SyA mit Zoom zugeschaltet, und ungefähr gleich viele Personen aus dem Team der Auftraggeber:in und ich waren vor Ort.


Das Ausgangsbild haben wir zu dritt (Auftraggeber:in, eine weitere Schlüsselperson aus dem Bereich und ich) ca. eine Woche vor der SyA «gestellt». Die verschiedenen Elemente wurden vorher gemeinsam bestimmt.

Die 9 Elemente als Jury Aufstellung durch die Auftraggeberin als Ausgangsbild erstellt

Die Bestimmung und Auswahl der Elemente ist ein eigener wesentlicher Prozess. Es werden so wenig Elemente wie möglich und soviele wie nötig abgebildet. Der Kunde bestimmt einerseits welche Sichtweisen ihn in Aufstellung interessieren und warum. Ich ergänze mit meinen Erfahrungen, welche Elemente in Bezug auf die Fragestellung wichtig sein könnten. So wird miteinander co-kreativ die Auswahl der Elemente bestimmt.

Auszug aus der Präsentation. Die 9 Elemente mit Kurzbeschreibung und Codierung

Was heisst codiert und warum?

SyA können verdeckt, halbverdeckt oder offen durchgeführt werden, das heisst die Elemente sind den Repräsentanten nicht bekannt (sie sind codiert), teilweise bekannt oder bekannt. Im vorliegenden Fall arbeiteten wir halbverdeckt, d.h. der deklarierte Purpose war allen bekannt, alle anderen Elemente wurden codiert. Die Beobachtenden im Raum wussten wer hinter jedem Code stand, die Repräsentanten nicht. Diese Arbeitsweise hat den Vorteil, dass die Repräsentanten sich ganz auf ihre Wahrnehmung konzentrieren können und nicht durch ein Etikett, z.B. Geschäftsleitung ablenken lassen.

Codierte Elemente; das Bild, das die Repräsentanten zu sehen bekamen

Die Aufstellung

Eine organisationales Thema mit SyA online wie im dargestellten Fall dauert ca. 90 Min. Je nach Kundenwunsch findet vorher eine Einführung in SyA statt. Ich als Facilitator bin entweder mit der Auftraggeber:in vor Ort oder ebenfalls online. Im vorliegenden Fall war ich mit der Auftraggeber:in und weiteren ca. 10 Personen vor Ort und die 9 Repräsentanten wurden online mit Zoom zugeschaltet. Alle hatten Zugang zum online Systembrett.

Sobald alle bereit waren, stellte die Auftraggeberin die Fragestellung für diese SyA und den Kontext kurz vor, die Repräsentanten, für die alle Informationen neu waren, konnten Verständnisfragen stellen. Nun wurden die Elemente unter den Repräsentanten verteilt. Jeder Repräsentant versetzte sich in sein Element und wie es ihm buchstäblich da ging (z.B. angenehmer oder eher unangenehmer Platz, kraftvolles oder eher schwaches Element, bedeutungsvoll oder eher unwichtig und sein Erleben und Bezug zum deklarierten Purpose). Wir nennen diesen Prozess “repräsentierende Wahrnehmung”. In einer von mir vorher festgelegten Struktur gab nun jedes Jury-Mitglied seinen Eindruck zum deklarierten Purpose ab und umgekehrt, der deklarierte Purpose gab seinen Eindruck zu jedem Jury-Mitglied statt. Bei einigen Verbindungen, z.B. deklarierter Purpose und evolutionärer Sinn, stellte ich gezielte zusätzliche Fragen. So entstand ein Gesamtbild, wo die Koppelung entspannt und kraftvoll war, wo ambivalent und wo angespannt bis aggressiv und ob sie sich im weiteren Verlauf veränderten oder nicht.

Die Erkenntnisse konnten auf drei Ebenen benannt werden:

  • Bestätigung. Einige Aussagen deckten sich mit den Rückmeldungen zum deklarierten Purpose aus dem Sounding-Board im Unternehmen. Die Aussagen der Repräsentanten machten auf eine andere Weise deutlich, um was es ging.

  • Position und Dynamik des Bereichs im Gesamtunternehmen. Die aktuelle Position und die Dynamik des Bereichs im Gesamtunternehmen mit seinen Chancen und Gefahren wurde sehr deutlich. Dies war besonders wertvoll zur Ausgestaltung der nächsten Schritte, wer wie in welcher Priorität kontaktiert werden musste.

  • Nicht oder wenig bewusste Qualitäten und Ressourcen wurden sichtbar. Das ist einerseits zur Justierung des deklarierten Purpose nützlich und andererseits auch, wer zur Unterstützung expliziter aufgefordert und einbezogen werden kann.


Nachbereitung

Die Nachbereitung im vorliegenden Fall war so, dass sich alle aus dem Betrieb an der SyA anwesende Personen ihre Eindrücke, inkl. mir zeitnah auf Mural in drei Felder dokumentierten: 1) FRAGEN - Was wundert dich? 2) BEDENKEN - Wo gibt es Widersprüche 3) HIGHLIGHTS - Was begeistert dich? Die interne Arbeitsgruppe ist die gesamte Dokumentation, inkl. den Aussagen aus dem Sounding-Board und den Kommentaren aus der Nachbereitung der SyA nochmal durchgegangen und haben die Formulierung des deklarierten Purpose angepasst.

Die Auftraggeber:in und ich haben uns in einem Abschlussgespräch via Zoom ausgetauscht.

Ein erster Schritt zu dieser gemeinsamen Orientierung ist somit getan und wie die Auftraggeberin richtig sagte, beginnt die effektive Arbeit erst jetzt.

Beispielsweise

  • im Führungsteam miteinander auszutauschen, was mit dieser Aussage in Bezug auf X und Y gemeint ist, oder wo das Führungsteam als nächstes einen Schwerpunkt legen will.

  • bei den Mitarbeitenden, welche nächsten Schritte sind nötig, dass dieser deklarierte Purpose wirklich Orientierung und Nutzen bringt für den einzelnen Mitarbeiter:in im Arbeitsalltag;

  • im Gesamtunternehmen, wie und wo kann dieser deklarierten Purpose effektiv hilfreich sein, z.B. hinsichtlich Auftrag des Bereichs oder strategischer Ausrichtung, was man in Zukunft nicht mehr tun wird.



Zum Weiterlesen

[1] Gehlert, Thomas (2022). System-Aufstellungen und ihre naturwissenschaftliche Begründung Grundlage für eine innovative Methode zur Entscheidungsfindung in der Unternehmensführung im Springer Gaber.
Das Buch ist open source, kann also von jeder Person, die will online gelesen werden. S. 106 schreibt Thomas Gehlert zur Methode: Bei SyA (in ihrer spezifischen Ausprägung auch bekannt als Familien-, Organisations- oder Struktur-Aufstellung) werden unterschiedlichste Fragestellungen, Beziehungsstrukturen und Informationen in einem dreidimensionalen Raum über Repräsentanten (in der Regel Menschen) zur Darstellung gebracht. Die Repräsentanten fungieren dabei als 'Resonanzkörper' für dahinterliegendes implizites Wissen und bekommen Zugang zu unbekannten Informationen und Aspekten einer Fragestellung eines Fallbringers und zu tragfähigen, nachhaltigen Lösungsansätzen. Dieses Wissen macht sich über Körperwahrnehmungen und auftauchende Ideen bemerkbar und wird vom Aufstellungsleiter (Facilitator) systematisch abgefragt. Bekannt ist dieses Phänomen als sogenannte ‚repräsentierende Wahrnehmung’ (Kibéd 2013: 202; Sparrer 2002: 103), von der auch Weber als einer der Gründer sagt, dass er noch nicht versteht, wie diese repräsentierende Wahrnehmung funktioniert und wie schöpferische Impulse entstehen können (Weber und Rosselet 2016: 20).

[2] Weber, Gunthard & Rosselet Claude (Hrsg.). (2016). Organisationsaufstellungen. Grundlagen, Settings, Anwendungsfelder. Carl Auer Verlag
Gerhard, Romy. (2018) Organisationsaufstellung. Implizites Wissen sichtbar machen. HRM Dossier Nr. 46. SpektraMedia.
infosyon organisationsaufstellungen organizational constellations. Internationales Forum für Systemaufstellungen in Organisationen

[3] Facilitator wird die Person genannt, die die SyA leitet; andere Begriffe sind: Aufstellungsleiterin, Gastgeber:in; ich verwende die Begriffe synonym

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